Die Idee zu dieser Geschichte hatte ich, als ich, von der Sonne verwöhnt, auf der Deichkrone saß und in die Unendlichkeit des Kehdinger Landes blickte. Das Thyphone eines „dichen Pottes“ auf der Elbe brachte mich ins hier und jetzt zurück.
„Junger Mann, Sie sind an der Reihe, bitte kommen Sie!“
Siegfried Helmke war so sehr in seiner Illustrierten vertieft, dass er die Arzthelferin nicht gleich wahrnahm. Erst als die junge Frau in ihrer engen weißen Jeans direkt vor ihm steht, wendet er seinen Blick von dem Magazin ab und starrt direkt auf ihre strammen Oberschenkel.
Höher konnte der 56-jährige Frührentner seinen Kopf nicht mehr heben, selbst wenn er wollte. Ein Arbeitsunfall bei Wartungsarbeiten an einem Hallenkran war die Ursache für die eingeschränkte Beweglichkeit seiner Halswirbel. Anfangs hatten die Ärzte nicht daran geglaubt, das Helmke, nach dem Sturz vor drei Jahren aus sechzehn Meter Höhe, jemals wieder laufen könnte.
„Herr Helmke, bitte kommen Sie, wir wollen den Doktor doch nicht warten lassen.“
Wortlos folgt er der Sprechstundenhilfe, ohne den Blick von ihrer Figur abzuwenden. Von dem attraktiven Mittfünfziger blieb nach dem Unfall nur ein alter krummer Mann übrig.
Siegfried Helmke lebte seit seinem Arbeitsunfall allein. Seine Frau, die Ines, hatte ihn, noch als sein Leben am seidenen Faden hing und die Ärzte um ihn kämpften, verlassen. „Sie wolle nicht den Rest ihres Lebens mit einem Krüppel zusammenleben“, stand in dem kurzen Abschiedsbrief, den ihm sein Nachbar mit ins Krankenhaus brachte. Helmke hatte jeden Halt verloren. Er hätte am liebsten seinen Kummer im Alkohol ertränkt, was der Streckverband nur nicht zuließ. Er war mit seinem Kummer auf lange Zeit im Krankenhausbett gefangen. In dem Jahr, in dem er das Krankenhaus nicht verlassen durfte, fing er an, Pläne zu schmieden. Reisepläne. Bolivien interessierte ihn, seitdem eine Reportage auf Phoenix gezeigt wurde. Helmke hatte ein Ziel, das ihm Mut machte.
„Herr Helmke, schön, Sie zu sehen, wie geht es Ihnen?“
Jenny, die Sprechstundenhilfe von Doktor Gruhn, schiebt ihm einen Stuhl zurecht.
„Danke, Herr Doktor, geht so.“ Schon im Krankenhaus hatte sich Helmke einen mitleiderregenden Tonfall angeeignet. Die Schwestern haben ihm fast jeden Wunsch erfüllt.
Doktor Gruhn wendet sich an seine Sprechstundenhilfe: „Jenny, bitte sei so lieb und bring uns die Spritze mit dem vorbereiteten Impfstoff für Herrn Helmke.“
Er will ihr nachschauen, bekommt den Kopf nur nicht weit genug gedreht.
„Na, Herr Helmke, geht doch schon ganz gut. Noch ein paar Wochen Physio und Sie sind wieder fit.“ Doktor Gruhn zwinkert kurz mit den Augen. Helmke fühlt sich ertappt. Dennoch geht ihm Jennys wiegender Hüftschwung nicht aus dem Kopf.
„Nun zu Ihnen, Herr Helmke. Wie Sie wissen, bekommen Sie heute Ihre erste Impfdosis für die anstehende Südamerika-Reise. Haben Sie die Einverständniserklärung und die Risikobelehrung unterschrieben?“
„Ja Herr Doktor, hab ich vorne abgegeben.“
„Gut, dann können wir loslegen, sobald …“
Jenny kommt mit einer silbern glänzenden nierenförmigen Schale, in der eine aufgezogene Spritze liegt, zurück ins Sprechzimmer.
Die Einstichstelle schmerzt höllisch, Helmke fühlt sich schwach und alleingelassen. Kalte Schweißtropfen drängen aus seinen Poren ins Freie. Der Impfstoff bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg durch den Körper und beginnt einen unerbittlichen Kampf mit dem körpereigenen Abwehrsystem. Helmke bricht in seiner Küche zusammen.
Alles dreht sich. Mit rasender Geschwindigkeit schießen weiße Bälle an ihm vorbei. Die Tunnelwände glühen feuerrot. Sie pulsieren im Takt einer scheinbar weit entfernten Pauke. Es gibt kein Zurück. Immer tiefer geht es in den Tunnel hinein. Scheinbar schwerelos schießt Helmke mit dem Kopf voran durch die Röhre. Er Straucheln, ihm ist übel. Unsanft kommt er zum Stehen und wird von einem der weißen Bälle hart am Kopf getroffen. Der Ball sieht aus wie ein Augapfel. Er zwinkert Helmke kurz an und schießt davon. Schallendes Gelächter ertönt von überall her. Verwirrt sieht sich Helmke nach allen Seiten um. Die Tunnelwände pulsieren immer stärker zu dem dumpfen Rhythmus eines Herzschlages. Immer mehr Bälle schießen ihm entgegen. Sie haben nun Gesichter. Jenny lacht ihn lautstark an. Riesige Zähne ragen aus ihrem Mund. Ines umkreist ihn, öffnet ihren Mund und setzt zum Biss an. Gerade noch rechtzeitig kann er sich wegducken. Helmke bekommt von hinten einen heftigen Schubs und geht zu Boden. Eine prallgefüllte weiße Jeans ohne Beine rollt an seinem Gesicht im Zeitlupentempo vorbei. Doktor Gruhns fieses Lachen hallt laut, von einem Echo begleitet, durch den Tunnel. Helmke versucht aufzustehen. Er kann sich nicht bewegen. Ines und Jenny hindern ihn daran. Wie eine Schlange winden sie sich zähnefletschend um seine Beine. Jenny beißt zu. Helmke schreit vor Schmerz und versucht, ihren Kopf aus seinem Oberschenkel zu reißen. Wie eine Zecke hat sie sich ins Fleisch gefressen. Blut läuft an seinem Bein hinunter. Ines schleckt es mit ihrer langen Zunge genüsslich auf. Sie windet sich langsam höher und höher. Ihre Augen glühen wie heiße Kohle im Schmiedefeuer. Helmke versucht sie von sich wegzudrücken. Zischend löst sie sich von ihm und stößt blitzschnell zu. Ihr Kopf bohrt sich tief in seinen Bauch. Er muss sich übergeben. Es ist Ines, die aus seinem Mund lachend herausfließt. In ihrer Hand hält sie etwas Pulsierendes. Sein Herz. Jenny kommt dazu und entreißt es ihr. Wie mit einem Handball dribbelt sie lachend davon.
„Das Herz gehört mir!“ Ines rennt schreiend hinter ihr her.
Helmke spürt die Leere in seiner Brust. Er bäumt sich auf und versucht, mit letzter Kraft hinterher zu kriechen. Ein Schwall Blut erfasst ihn und spült ihn weit weg von den Frauen. Sein Herz wird unerreichbar. Er wird von der Strömung wild umhergewirbelt. Plötzlich ist es still. Kein Rauschen und kein Pulsieren mehr. Helmke öffnet vorsichtig die Augen. Er blickt sich nach allen Seiten um. Es ist eiskalt in diesem undurchdringlichen Nebel. Ist das der Himmel? Bin ich tot?
Das dumpfe, pulsierende Geräusch ist wieder da, es kommt näher. Sein Herz pumpt direkt auf ihn zu. Helmke greift danach und im selben Augenblick befindet er sich im freien Fall auf die Erde zu. Schreie, von überall her dringen Schreie an seine Ohren, die sich mit hellem Glockengeläut abwechseln. Plötzlich ist es dunkel. Sand prasselt auf seinen Holzsarg. Er kann Ines und Jenny weinen hören. Die Grube füllt sich immer weiter mit ihren Tränen. Helmke versucht, den Sargdeckel aufzudrücken. Erfolglos. Mit beiden Fäusten hämmert er dagegen. Holz splittert. Er spürt eine eiskalte Hand in seinem Gesicht.
Mit lautem Krachen flieg die Wohnungstür auf. Zwei Feuerwehrleute springen zur Seite und machen dem Notarzt Platz. „Herr Helmke, Herr Helmke, können Sie mich hören?“ Der Notfallmediziner tätschelt seine Wangen.
„Sauerstoff! Schnell!“, ruft er den Sanitätern zu.
Helmke öffnet benommen die Augen und flüstert: „Wo bin ich?“
„Schön, dass Sie wieder bei uns sind, Herr Helmke.“
„Warum? Was ist passiert?“ Mit trüben Augen blickt Helmke den Notarzt fragend an.
„Sie sind ohnmächtig geworden. um das Warum werden wir uns später im Krankenhaus kümmern, Herr Helmke.“
Aus der Ferne kann er die Frauen immer noch weinen hören.