»Clara, Claaaara, bring die Kaffeesahne mit!«
»Herta, du brauchst nicht schreien! Ich mag alt sein, meine Ohren funktionieren aber noch sehr gut!« Clara Jensen kommt langsam mit ihrem Rollator zurück in die Stube geklappert, wo Herta Hoffmann rhythmisch mit dem Teelöffel gegen ihre Tasse schlägt.
»Nun mach schon, der Kaffee ist ja schon kalt!«, keift Herta erneut in Claras Richtung.
Was will die Alte nur mit Kaffeesahne? Diese fette Kuh sollte lieber auf ihre Pfunde achten, denkt sich Clara und stellt den Kaffeesahnepott so auf den Tisch, dass Herta sich strecken muss, um ihn zu erreichen.
Herta, die vor wenigen Tagen 82 geworden ist, bemüht sich, an die Sahne zu gelangen und wirft ihrer Mitbewohnerin in der Seniorenresidenz ‚Am Waldrand‘ einen verächtlichen Blick zu. Das macht die doch extra! Immer muss die mich die dumme Ziege schikanieren.
»Nur weil ich vier Jahre jünger bin als du, Herta, brauchst du mich nicht so rumzukommandieren!« Clara stellt umständlich ihren Rollator neben ihren bequemen Ohrenbackensessel, den sie vor drei Jahren, zu ihrem 75., von ihren Kindern bekommen hatte, und lässt sich darin fallen.
»Was machen eigentlich deine Kinder?«, will Clara von ihrer Mitbewohnerin wissen.
»Ach, Clara Jensen, wenn ich das nur wüsste. Mich kommt ja niemand besuchen. Ich habe mittlerweile sechs Urenkel und noch keines gesehen. Ab und zu mal ein Anruf, mehr haben sie nicht für mich übrig.« Herta bricht in Tränen aus und führt mit zittriger Hand ihre Kaffeetasse zum Mund. Clara hat noch nie nach meinen Kindern gefragt, was hat sie diesmal wieder vor?, denkt sie und nippt genüsslich an dem Kaffee, bevor sie das Thema wechselt. »Wo steckt eigentlich Helga?«
»Ach, Herta, hast du das etwa vergessen? Helga ist vorgestern verstorben«, antwortet Clara und macht dabei ein trauriges Gesicht. Auch das hat sie vergessen. Bin gespannt, wann sie mich nicht mehr erkennt.
»Hast du mitbekommen, wann die Beerdigung sein soll?«
»Nein, Herta, das wird uns die Schwester bestimmt noch sagen.«
»Ach, Clara, so langsam kommen die Einschläge näher. Aber der Butterkuchen ist immer sehr lecker.«
Immer nur Kuchen, Kuchen, Kuchen! Irgendwann wird die platzen!, lächelt Clara in sich hinein.
»Ich weiß genau, was du jetzt denkst«, Herta macht eine kurze Pause, bevor sie weiterspricht, und ist bemüht, freundlich zu bleiben: »Hast du noch ein Tässchen Kaffee für mich?« Sie schiebt die Tasse mit Hilfe ihres Gehstockes langsam über den Tisch.
Soll sie ihren fetten Arsch doch selber bewegen!, denkt sich Clara und macht keinerlei Anstalten, Hertas Bitte nachzukommen.
Clara und Herta sind zusammen in Cuxhaven, im Arbeiterviertel Groden, aufgewachsen. Ihnen hatte es in den Nachkriegsjahren zwar an nichts gefehlt, aber irgendwie gehörte Neid und Missgunst zur Tagesordnung der Mädchen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Als junge Frauen haben sie sich aus den Augen verloren, haben verschiedene Richtungen eingeschlagen. Clara Jensen hatte eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin absolviert und dabei ihren Friedhelm kennengelernt. Sie haben geheiratet und zusammen vier Kinder bekommen. Vor fünf Jahren verstarb er und seitdem wohnt Clara in der Seniorenresidenz und wird regelmäßig von ihren Kindern besucht.
Herta Hoffmann hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Sie war schon immer ein egoistischer Mensch, immer auf Achse. Irgendwann blieb sie in einer Bar, im verruchten Hafenviertel der Stadt, hängen. Dass Herta mit fremden Männern rummacht, sprach sich schnell im Viertel herum. Clara war es egal, sie hatte ihr warmes und geborgenes Nest. Oft denkt Clara wehmütig an die schöne Zeit mit ihrem Friedhelm zurück. Ihr ruhiges Leben in der Seniorenresidenz war mit einem Schlag beendet, als Herta vor vier Wochen hier einzog.
»Hör auf zu träumen und schenk mir endlich Kaffee nach!«, befahl Herta in einem Ton, der Clara gar nicht gefiel.
Die hängt an mir wie eine Klette! Warum sucht sie sich nicht eine andere zum Schikanieren? Nur weil wir zusammen in einer Straße aufgewachsen sind? Ich muss sie loswerden, und zwar schnell. Clara schmiedete einen Plan und kam schließlich Hertas Bitte nach und füllte die Tasse.
»Danke Clara, ist lieb von dir.« Na, geht doch, warum nicht gleich? Die werde ich mir noch erziehen, genau wie damals in Groden. Auch Herta verfolgte einen Plan.
Zwischen den beiden Frauen baute sich eine nonverbale Spannung auf. Clara kannte dieses Gefühl aus ihrer Kindheit. Schon damals hatte Herta einen herrischen Auftritt und versuchte, alle für sich einzunehmen.
Ich habe aus der Vergangenheit gelernt, diesmal wirst du auf die Fresse fallen, versprochen! Clara erhebt sich aus ihrem Sessel und fragt Herta: »Noch ein Stück Kuchen oder lieber einen Sherry?«
»Ach Liebes, wenn du mich so fragst, dann lieber einen Sherry«, antwortet Herta.
»Gerne.« Clara greift nach ihren Rollator und schiebt damit los. Jetzt oder nie! Wo hab ich nur den Fingerhut gelassen? Ah, im Bad!
»Na, meldet sich deine Konfirmandenblase?«, wollte Herta wissen.
»Ich kann wenigstens noch richtig und trage nicht so einen ollen Plastikbeutel mit mir herum«, konterte Clara und freute sich über ihre Schlagfertigkeit.
Diese dumme Kuh! Am liebsten wäre Herta aufgesprungen, aber ohne fremde Hilfe schafft sie es nicht mehr.
Kurze Zeit später kehrt Clara mit einem Glas Sherry zurück und reicht es Herta.
»Wie, du trinkst keinen mit?«
»Wenn ich es mir recht überlege, Herta, könnte ich mir zur Feier des Tages durchaus auch ein Gläschen gönnen.« Clara ging erneut in die Küche und kam mit einem Glas Sherry zurück. »Zum Wohl, meine liebe Herta, auf deine Gesundheit und ein langes Leben.« Und auf baldigen Butterkuchen.
Beide Frauen setzten ihre Gläser an. Clara nippte nur ein wenig an ihrem Glas. Herta dagegen stürzte den gesamten Inhalt mit einem Mal herunter und verlangte nach einem zweiten Glas. Bevor Clara ihr den Wunsch erfüllen konnte, hatte die giftige Wirkung der konzentrierten Digitaloide des Fingerhutes Hertas schwaches Herz zum Stillstand gebracht.
Zufrieden leerte Clara ihr Glas.