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Kindheitserinnerung

Bei einem Fernsehinterview wurde mir die Frage nach der ersten Begegnung mit der Schwebefähre gestellt, die ich bei einem Schreibseminar mit Hera Lind wie folgt zu Papier gebracht habe.

„Herr Brinkmann, was hat sie dazu bewogen, sich um so ein Ungetüm zu kümmern?“
Ich blickte erst in die Fernsehkamera und dann zu der etwas zu kurz geratenen Redakteurin vom NDR-Fernsehen. Sie zitterte am ganzen Körper, es war Anfang Februar, und es blies ein kräftiger Ostwind über den Fluss. Schnee lag in der Luft.
Es fiel ihr sichtlich schwer, mir das Mikrofon vor den Mund zu halten. Die Wollmütze, die sie sich von ihrem Kameramann lieh, rutsche ihr andauernd über die Augen.
„Schauen sie bitte auf mich, nicht in die Kamera.“
Es fiel mir bei diesem Anblick nicht schwer, ich musste mein Grinsen irgendwie unterdrücken. Jedenfalls hatte ich passende Kleidung, inklusive Mütze, denn diese norddeutsche Witterung war mir nicht fremd. Sonst eher schlagfertig, grübelte ich über die Frage der Reporterin nach, blickte zu den tanzenden Wellen hinunter und da schwamm sie, die Erinnerung, unförmig und in Grau-Weiß, leider ohne Eisbär.
 
„Ich muss so um die fünf Jahre alt gewesen sein, als ich das erste Mal dieses Monster aus Stahl zu Gesicht bekam.“
 
Sie zuckte zusammen, als ich die Glocke zur Abfahrt läutete und die Fähre in Gang setzte. Ein steifer Rum Grog würde ihr bestimmt guttun.
 
„Es war Winter, der Fluss versteckte sich unter einem dicken Eispanzer und diese Fähre, die über die Oste schwebt, war die einzige Möglichkeit zu dieser Jahreszeit, um übersetzen zu können.
 
Wir fuhren die lange Allee hinunter, die Norddeutsche Tiefebene breitete sich wie frisch gepudert vor meinen kindlichen Augen aus. Ich würde lieber Schlittenfahren, musste aber mit. Und dann sah ich sie von weitem. Mächtig, wie eine riesige Spinne ragte sie über den Deich. Meine Augen wurden immer größer. Sie sah aus, als halte sie beide Ufer zusammen.
 
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich meine Mutter überreden musste, aussteigen zu dürfen.
 
Die Gondel der Schwebefähre setzte sich in Bewegung, sie kam mit lautem Rattern und quietschen auf mich zu. Erinnerungen an meinem alten Tretroller wurden wach. Die Gondel hängt unter einem Gerüst, schwebt zwischen den Beinen der Spinne hindurch und spuckte mehrere Autos aus. Mit geöffnetem Mund stand ich da und blickte ins Stahlfachwerk. Meine Mutter brachte mich zum Fährmann und fuhr dann unser Auto auf die Fähre. Wir waren die einzigen Fahrgäste auf dieser Tour. Der Fährmann zeigte mir den Führerstand, mit dem Fahrregler, der wie das Lenkrad eines Kettcars aussieht, und die vielen bunten Knöpfe. Ich durfte auf keinen Fall auf einen drücken – heute darf ich es. Es stank hier erbärmlich nach etwas, was ich nicht kannte. Meine Augen tränten, so widerlich war es. Es war abgestandener Pfeifenrauch des Fährmanns, er hängt heute noch im Führerstand fest, wie ein Relikt aus der guten alten Zeit. Er drehte am Fahrregler und drückte einen Knopf. Es gab einen kurzen Ruck und quietschend schwebten wir über das Eis. Toll, ich hätte den ganzen Tag hin und her schweben können, wenn nur diese Kälte nicht wäre.
 
Mit gleicher Faszination, wie noch vor einem halben Jahrhundert, betrachte ich dieses über 100 Jahre alte Bauwerk, nur dass ich heute am Rad drehen und die Knöpfe drücken darf und seit vielen Jahren die Geschicke des Vereins lenke, der die jetzige Touristen-Attraktion Schwebefähre betreibt.
 
Im Grunde bin ich immer noch ein Kind, nur das mein Spielzeug aus 286 Tonnen Stahl besteht und ich Vorsitzender des Betreibervereins bin. Das hätte ich mir damals nicht erträumen können.“

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Veröffentlicht von Der Oestinger

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